Warum wir leiden – und was hat das mit Widerstand zu tun?

Schmerz verstehen aus einer medizinisch-achtsamen Perspektive

Entspannung Resillienz

In der Schmerzmedizin liegt unser Fokus oft auf der körperlichen Seite des Schmerzes – auf dem Gewebe, den Nerven, den Rezeptoren, auf Diagnostik und medikamentöser Therapie. Und das ist auch richtig so. Doch jeder, der mit chronischem Schmerz lebt, weiß: Schmerz ist nicht nur ein körperliches Phänomen. Er beeinflusst unser Denken, Fühlen und Handeln – und umgekehrt beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln den Schmerz.

Ein Konzept, das diesen Zusammenhang auf besonders eindrückliche Weise beschreibt, lautet:

Leiden = Schmerz × Widerstand
(Suffering = Pain × Resistance)

Diese Formel stammt nicht aus der klassischen Medizin, sondern ist eine moderne Ableitung aus der buddhistischen Psychologie und findet sich heute in vielen achtsamkeitsbasierten Ansätzen der Schmerztherapie wieder. Sie bringt eine zentrale Erkenntnis auf den Punkt: Schmerz ist unvermeidlich – Leiden jedoch ist veränderbar.

Schmerz ist nicht gleich Leiden

Im medizinischen Kontext wird oft zwischen akutem und chronischem Schmerz unterschieden. Doch aus psychologischer Sicht ist eine weitere Unterscheidung entscheidend: der Unterschied zwischen Schmerz (pain) und Leiden (suffering).

  • Schmerz ist eine sensorische, neurologische Erfahrung. Er kann durch Verletzungen, Entzündungen, degenerative Prozesse oder auch durch Funktionsstörungen entstehen.
  • Leiden ist unsere emotionale und mentale Reaktion auf den Schmerz. Es entsteht durch Widerstand: durch Ablehnung, Frustration, Angst, Wut oder das Gefühl, dem Schmerz ausgeliefert zu sein.

Die Formel sagt: Leiden = Schmerz × Widerstand.
Das bedeutet: Je größer der Widerstand gegen den Schmerz, desto größer wird das subjektive Leiden. Umgekehrt: Wenn wir unseren Widerstand reduzieren, kann auch das Leiden abnehmen – selbst wenn der Schmerz bleibt.

Was ist mit „Widerstand“ gemeint?

Widerstand kann viele Gesichter haben:

  • der innere Kampf: „Ich will das nicht!“ oder „Das darf nicht sein!“
  • Grübeln: „Warum ich?“, „Was, wenn es nie besser wird?“
  • Selbstvorwürfe: „Hätte ich besser auf mich aufgepasst …“
  • Angst vor zukünftigen Schmerzen
  • Vergleiche mit früheren Zeiten ohne Schmerz

Dieser Widerstand ist völlig menschlich. Er ist eine verständliche Reaktion auf eine bedrohliche, oft ausweglose Situation. Doch aus neurobiologischer Sicht kann genau dieser Widerstand den Schmerz verstärken – durch erhöhte Stressreaktionen, Muskelanspannung, veränderte Schmerzwahrnehmung und eine Überaktivierung des Nervensystems.

Ein achtsamer Umgang mit Schmerz

Hier setzt ein anderer Umgang mit Schmerz an – einer, der auf Akzeptanz, Achtsamkeit und Mitgefühl basiert. In der modernen Schmerzpsychologie finden sich diese Ansätze u. a. in:

  • der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)
  • der Mindfulness-Based Pain Management (MBPM)
  • und der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) nach Jon Kabat-Zinn

Diese Verfahren zeigen: Wenn wir lernen, dem Schmerz achtsam zu begegnen, ohne ihn sofort verändern zu wollen, kann sich das gesamte Erleben transformieren. Es geht nicht darum, Schmerz zu „ertragen“ oder „wegzuatmen“, sondern darum, eine neue Beziehung zum Schmerz aufzubauen – frei von unnötigem Kampf.

Was bedeutet das für die Praxis?

In meiner Tätigkeit als Schmerzmediziner erlebe ich täglich, wie wichtig dieser Perspektivwechsel ist. Die klassische medizinische Therapie bleibt zentral: Diagnostik, Medikation, Physiotherapie und ggf. interventionelle Verfahren. Doch sie reicht allein oft nicht aus – insbesondere bei chronischen Schmerzen.

Deshalb arbeite ich ergänzend mit achtsamkeitsbasierten und psychologischen Ansätzen, um Menschen dabei zu unterstützen:

  • den eigenen Widerstand zu erkennen und zu verringern
  • einen gesunden, mitfühlenden Umgang mit dem Schmerz zu entwickeln
  • mehr Lebensqualität trotz Schmerz zu erfahren

Die Integration dieser Ansätze in die Schmerztherapie bedeutet nicht, den Schmerz zu akzeptieren, wie er ist, und nichts mehr zu tun – sondern die Kraft aus dem Nicht-Kämpfen zu nutzen, um wieder handlungsfähig zu werden.

Fazit: Wenn der Kampf aufhört, beginnt oft die Heilung

Schmerz gehört zum Leben. Doch Leiden ist kein unausweichliches Schicksal. Es entsteht dort, wo wir uns gegen die Realität wehren – und kann abnehmen, wenn wir uns ihr offen und achtsam zuwenden.

Die Formel Suffering = Pain × Resistance ist kein wissenschaftliches Gesetz, aber ein kraftvolles Modell, das sowohl in der Psychologie als auch in der Praxis der Schmerztherapie immer wieder seine Wirkung zeigt. Als Ärztin oder Arzt können wir diesen Prozess aktiv unterstützen – durch einen integrativen Ansatz, der Körper, Geist und Nervensystem gleichermaßen ernst nimmt.